Mehr Utopie statt Dystopie, bitte!
Digitalisierung – Big Data – Automatisierung – Robotik – Künstliche Intelligenz: Für viele das ultimative Angstszenario der Gegenwart und zukünftiger Entwicklungen. Für die Unternehmer, weil sie häufig Befürchtungen hegen, in diesem Umbruch nicht bestehen zu können. Und weil sie – trotz des Bewusstseins über die Notwendigkeit technischer Veränderungen – vor dem organisatorischen Aufwand, den Kosten, vermeintlichen Sicherheitsrisiken, Personalentwicklungen und einem möglicherweise tiefgreifenden Unternehmenswandel zurückschrecken.
Und Angst auch beim Arbeitnehmer, der sich bis dato wenig bis gar nicht mit dem Thema auseinandergesetzt hat, sich jedoch zunehmend mit diesen Schlagworten konfrontiert und dazwischen auflösen und untergehen sieht.
Dramatische Veränderung des Arbeitsmarktes
Richtig ist: Der Arbeitsmarkt wird sich in den kommenden Jahren drastisch verändern. In diesem Punkt sind sich die Experten einig. Betrachten wir exemplarisch das Ergebnis der globalen Delphi-Studie “2050: Die Zukunft der Arbeit” des Millennium Projekts, an deren Ausarbeitung unter anderem die Bertelsmann Stiftung, das Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung, das VDI Technologiezentrum und die Freie Universität Berlin beteiligt waren.
Kernaussage der befragten Experten ist, dass von einem weltweiten und massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit auszugehen ist und dass wir SO nicht weiterarbeiten können. Sehr kurz gefasst steht unterm Strich: Alles, was mittel- oder langfristig durch Technik ersetzbar ist, wird wegfallen. Und der Wandel wird nahezu alle Berufsgruppen erfassen und im Tempo voraussichtlich weiter zunehmen.
Oha. Lassen wir das kurz wirken und denken darüber nach, wie viele Bereiche und Aufgaben das beinhaltet, stellen wir fest: Übrig bleiben nur Berufe, die Empathie erfordern, in denen “sich gekümmert”, umsorgt, gepflegt wird.
Bereits jetzt übernehmen Maschinen und Systeme unzählige Aufgaben, die bislang von Menschen ausgeführt wurden. Tendenz steigend. Und die Entwicklung schreitet schnell und stetig voran. Sind es bislang überwiegend telefonische Kundenberatungen und Service-Hotlines, die von Sprachbots bedient werden, einzelne Verwaltungsaufgaben, selbststeuernde, intelligente Auspreisungen von Verkaufsware, die sich in Echtzeit an aktuelle Marktbedingungen anpassen, juristische Beratungen und Erstellung von Erfolgsprognosen, u.a. – werden in bereits sehr absehbarer Zeit Taxis, Busse und Bahnen ohne Fahrer, Arztpraxen und komplette Produktionsstraßen ohne menschliches Personal auskommen.
Mr. Robotic – Mr. Perfect?
Gegenüber dem Menschen bieten Computerprogramme und Maschinen unzählige Vorteile, wie zum Beispiel den “kollektiven Lernprozess”. Gibt es irgendwo einen Fehler im System, im Ablauf, wird dieser zentral korrigiert, und sich in gleicher Form niemals wiederholen. Ungenauigkeiten, Fehler oder Störungen treten somit einmalig auf, denn sie werden übermittelt, überarbeitet und eliminiert. Nicht so beim Menschen: Er lernt individuell. Jeder für sich. Zwar kann er grundsätzlich von Erfahrungen und Berichten anderer profitieren, doch ist das kein vorgezeichneter, automatisierter Prozess, und hängt dazu stark von individuellem Interesse, Voraussetzungen und Engagement des Einzelnen ab.
Darüber hinaus verursachen Computer und Roboter keine Sozialabgaben, beziehen keine Rente, kein Urlaubs-, Kranken- oder Elterngeld, arbeiten gemäß ihres Zwecks gegebenenfalls Tag und Nacht. Sie stellen keinerlei Ansprüche nach Anerkennung, Aufmerksamkeit oder Weiterbildung – und sie sind zunehmend günstig in Anschaffung und Unterhaltung. Nüchtern betrachtet scheint die Angst vor diesen Entwicklungen also tatsächlich berechtigt. Ist der menschliche Mitarbeiter im Arbeitsalltag, in unserem Wirtschaftssystem ein Auslaufmodell? Und wenn das so ist – was geschieht dann mit ihm? Oder ist und bleibt der Mensch unersetzlich? Wenn ja – warum? Und in welchen Bereichen?
Zusammen – statt Austausch
Die Frage ist: Muss es zwingend “entweder/oder” heißen, also “Mensch oder Maschine”? Oder sollte die Frage nicht richtigerweise lauten: In welcher Kombination können Mensch und Maschine enger miteinander verbunden, menschliche Fähigkeiten mit technischen Systemen sinnvoll erweitert werden? Denn können, ja sollen, Maschinen den Mensch nicht befreien, und folgerichtig in verschiedenen Prozessen ablösen? Und wenn Menschen in bestimmten Arbeitsabläufen ersetzt werden: Bedeutet das nicht Befreiung von möglicherweise stumpfsinnigen, eintönigen oder gefährlichen Tätigkeiten? Und bietet Chancen? Zum Beispiel individuelle Talente und Fähigkeiten gezielter zu nutzen, auszubauen, zu vertiefen? Wissen wir nicht längst, dass Routineaufgaben, vorgegebene Strukturen, Prozesse und festes Regelwerk zwar der Übersichtlichkeit und Vereinheitlichung dienen, dabei jedoch Engagement und Eigeninitiative vollkommen ersticken? Und ist es nicht gerade das, was den Menschen ausmacht: Individualität, Phantasie, Erfindungsreichtum, Emotionen, Neugierde? Und das nur eine kleine Auswahl an Attributen, die von Maschinen nicht erfüllbar sind.
Innovativer Aufbruch
Wie also sollte die Vermischung von Technik und menschlichen Fähigkeiten gestaltet werden, dass durch Einsatz moderner Systeme andere Kompetenzen freigesetzt werden können, bereinigt von Müßiggang und Routine? Wie müssen Unternehmen dafür ausgerichtet, wie Mitarbeiter darauf vorbereitet werden? Diese – und viele weitere – Überlegungen müssen von Politik, Wirtschaft, Ökonomen, Unternehmenslenkern und anderen Experten dringend angestellt und beantwortet werden. Doch sind diese gegenwärtig eher klein-klein und uninspiriert: Ein bißchen mehr Breitband hier, ein bißchen mehr Weiter- und Ausbildung dort… – braucht es nicht eine neue, eine frische, eine moderne Gesellschaftsutopie?
Nun stehen also auf der einen Seite Motivation, unternehmerische Neugierde und nicht zuletzt der Zwang und Druck, gegenwärtige Entwicklungen im Unternehmen einzuführen – um Prozesse, Produkte, Dienstleistungen zu überprüfen, zu verbessern oder neu zu entwickeln, um konkurrenzfähig zu bleiben und langfristig zu bestehen, wiegt auf der anderen Seite die Verantwortung für die Mitarbeiter, und das Bewusstsein, dass Unternehmen vor allem durch die Belegschaft, deren Erfahrungen, Ideen und Impulse, Engagement und Loyalität aufgebaut, geprägt und weiterentwickelt werden. Doch eben diese Belegschaft hegt ein tiefes, nicht ganz unberechtigtes Misstrauen gegenüber dem technischen Fortschritt, dessen Auswirkungen auf den eigenen Arbeitsplatz unüberschaubar sind.
Erfolg durch Transparenz und Verständnis
Das bedeutet: Werden aus unternehmerischer Überzeugung bestehende Ängste und Vorbehalte zugunsten neuer technischer Möglichkeiten überwunden, kann dieses Projekt nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, die Mitarbeiter zu überzeugen und mitzunehmen. Doch wie kann das gelingen, muss es sich doch anfühlen, als sägten sie eigenhändig an dem Ast, auf dem sie sitzen? Wie kann also eine Anpassung an die neue Arbeitsrealität gelingen? Ein schwieriges – doch nicht unlösbares Unterfangen. Denn wenn Sinnhaftigkeit, Notwendigkeit und das Vorgehen klar formuliert und kommuniziert werden, wenn dem Einzelnen verständlich und nachvollziehbar ist, dass die Veränderungen unausweichlich – und vor allem: in seinem Sinne, zu seinem Vorteil sind, wenn diese Veränderungen nicht pauschal und allgemeingültig, sondern mit Augenmaß und auf individuelle Erfordernisse umgesetzt werden, dann wird die Überführung in das neue, das digitale Zeitalter gelingen.
Alles wird anders
Innovation und Fortschritt gab es schon immer. In mehr oder weniger schnellem Tempo, mit mehr oder weniger gravierenden Folgen. Und ebenso gab es schon immer diejenigen, die für oder gegen Neuerungen und Entwicklungen plädierten. Optimisten oder Schwarzseher. Jedoch muss man zugestehen, dass der derzeitige Wandel tatsächlich Veränderungen in einem Ausmaß mit sich bringt, wie es bislang nicht gab. Auch sind seine Auswirkungen in Gänze noch nicht absehbar.
Aktuelle Prognosen besagen, die Transformationsphase der Arbeitsprozesse wird über die nächsten ein bis zwei Dekaden andauern, und dem ein Übergang in ein gänzlich neues System des Arbeitens und Wirtschaftens – und in der Konsequenz auch neuen Gesellschaftssystems – folgen.
Notwendigkeit neuer Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme
Die Arbeitswelt wird sich also verändern. Anders werden. Doch ‘anders’ heißt nicht zwingend: schlechter. Anders bedeutet, dass Denk- und Sichtweisen verändert, neue Lösungen überdacht, Prozesse aufgesetzt und Berufsbilder verändert werden müssen. Wer heute Vorlesungsverzeichnisse von Universitäten, Fach- und Volkshochschulen und anderen bildenden Institutionen liest, wird überrascht sein, über das Angebot von Studien- und Ausbildungsgängen, von denen er nie zuvor hörte. Will sagen: So wie sich technische Möglichkeiten und eine zunehmend globalisierte, digitalisierte Arbeitswelt entwickeln, entwickelt sich auch das Angebot an Aus- und Weiterbildungen.
Berufe und Beschäftigungen fallen weg. Dafür entstehen neue. Und dort, wo gegenüber den Wegfallenden nicht unmittelbar neue entstehen, wird es vollkommen neue Angebote geben. Der Berufsalltag an sich wird sich verändern. Es wird sich eine neue Wahrnehmung und Definition für “Arbeiten” entwickeln. Geltende Prinzipien wie Lohnarbeit werden mittel- bis langfristig gänzlich überholt sein; es gilt, neue gesellschaftspolitische Modelle zu überdenken. Es werden Lösungen – wie beispielsweise das bedingungslose Grundeinkommen – zum Tragen kommen, und dieses wird dabei nicht ideologische oder politische Überzeugung, sondern ökonomische Notwendigkeit sein.
Ausblick
Der ‘arbeitende Mensch’ wird sich neu erfinden; er wird sich weniger über Arbeit und entgeltliche Leistung definieren, wie es heute der Fall ist. Vielmehr wird der Mensch zunehmend zum ‘freien Gestalter’ seines Lebens, unabhängig von wirtschaftlichen Zwängen und Erwerbsarbeit. Denn die technischen, wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Veränderungen finden in einem viel größeren Kontext statt, der bei oberflächlicher Betrachtung oft außer Acht gelassen wird. Demzufolge wird sich nicht nur der technische Status Quo – sondern unsere gesellschaftliche Ordnung verändern.